Die Weinprobe

 

 

von Dr. Berthold Leinemann

 

   

Bei der alten Geseker Schützenbruderschaft haben sich viele Gebräuche im Laufe der Jahrhunderte erhalten. Sie gehen zum Teil auf historische Ereignisse zurück, die sich vor vielen Jahren zugetragen haben. So ein alter Brauch ist die berühmte Weinprobe, etwa sechs Wochen vor dem Schützenfest. Beim Durchblättern der alten Protokolle stößt man auf die Bestimmung, die wurde vor etwa 150 Jahren in die Satzungen aufgenommen und besagt, dass eine Kommission vor dem Schützenfest Getränke und Speisen überprüfen muss. Was war der Anlass für diese Bestimmung? Ich will es erzählen.

 

In der damaligen Zeit wurde das Bier von den Schützenbrüdern selbst gebraut. Jeder Festteilnehmer bzw. Schützenbruder war verpflichtet, so und so viel Scheffel Gerste abzuliefern. Aus diesen Spenden wurde der edle Gerstensaft gebraut in einem passenden Keller, so bei Haken, bei Hauptmann Cramer, bei Kronen am Markt (später Assheuer) usw. Um das Getränk recht angenehm und süffig zu machen, wurden Hopfen, Ingwer und andere Zutaten dem gärenden Sud beigemischt.

 

Nun muss man sich in dem bewussten Jahre wohl bei einer der Zutaten vergriffen oder ein falsches Gewürz erwischt haben. Das fröhliche Schützenfest lief auf vollen Touren. Da traten plötzlich recht unangenehme Erscheinungen auf. Man spürte in seinen Eingeweiden ein stürmisches Drängen. Darmgeräusche wurden laut und kündigten Unheil an. Mit Mühe und Not versuchte man die dafür vorgesehenen Lokalitäten (Retiraden) auf dem Festplatz zu erreichen, aber wehe, in drangvoll, fürchterlicher Enge war eine Schlange von Festteilnehmern ebenfalls bestrebt, die Örtchen der Erleichterung zu frequentieren, um sich Luft zu verschaffen.

 

Die Fama berichtet, dass alle stillen Örtchen in der Nachbarschaft des Sellenhofes (damaliger Festplatz) von Cramers an der Westpote bis Bredenoll auf dem Hellweg und von Gemmen an der Stempote bis nach Engels an der Bache diesem Ansturm kaum gewachsen waren. Aus dem Licht und Frischluft spendendem Herzchen an der Tür des stillen Örtchens drang verhalten gepresstes Stöhnen, die die explosiv, flüssige Entleerung der Verdauungsorgane begleitete und einem wohligen Gefühl der Erleichterung Platz machte, bis wieder der erneute Drang zur gewaltsamen Explosion einsetzte.

  

Dieses schreckliche Ereignis war der Anlass zu dem oben angegebenen Protokoll. 

 

In heroischer Selbstaufopferung sollte fortan also eine Kommission vor dem Fest Speisen und Getränke überprüfen, um eine erneute Katastrophe zu verhindern.

  

Seit man später das Bier aus den großen Brauereien bezog, waren solche Vorfälle nicht mehr zu befürchten, aber es wurde ja auch Wein getrunken, der in verschiedener Qualität vom Schützenwirt angeboten wurde. Diese Weinsorten überprüfte man dann auf Charakter und Güte...

 

Bei diesen Weinproben schalte sich dann im Laufe der Jahre ein strenges Ritual heraus. Eine schon fast legendäre Gestalt war unserer früherer Schützenoberst Philipp Thoholte. Mit Leib und Seele Schützenbruder, hegte und pflegte er überlieferte Gebräuche und Gepflogenheiten. 

 

Bei der Weinprobe war bei festlichem Kerzenlicht die Kommission versammelt. In zündender Ansprache schilderte er die oben beschriebenen Ereignisse und die Aufgaben dieser wohlachtbaren Kommission. In fröhlichen Hinweisen erklärte er, wie man den Wein probiert und genießt. 

 

Alle fünf Sinne sind bei diesem Genuss beteiligt. Zunächst prüft das Gefühl mit den Fingerspitzen, ob der Wein im Glas die richtige Temperatur hat, nicht zu warm, aber auch nicht zu eiskalt muss er sein. Dann prüft das Auge, ob das edle Getränk goldig im Glase schimmert. Die Nase zieht den edlen Duft oder wie man beim Weine sagt, die Blume ein. Dann ist der Geschmack an der Reihe. Langsam, in kleinen Mengen lässt man das köstliche Getränk über die Lippen rinnen, zieht es genießerisch durch die Zähne, kaut es und lässt es genüsslich durch die Kehle rinnen. Dabei prüft man, ob es artig, fruchtig, spritzig vollmundig ist, ob es Charakter, feine Art hat, oder wie sonst noch alle die schmückenden Beiworte heißen. Selbst das Gehör wird noch beansprucht, wenn man seinen Freunden zutrinkt und die Gläser hell erklingen lässt. 

 

Nach diesem Auftakt herrschte Stille in der fröhlichen Runde. Verschiedene Gläser wurden mit verschiedenen Weinen gefüllt. Lage, Wachstum und Preis waren nur dem dem Protokollführer bekannt, und jeder ließ von den diversen Weinen erst einmal einige Tröpfen über die Zunge rinnen. Wehe, wenn einer der Anwesenden vorzeitig etwas über die Qualität des gerade probierten Weines sagen wollte, da wurde Vater Thoholte aber "ösig" und rief ihn zur Ordnung an. Nur ein verklärtes Lächeln oder ein anerkennendes "Hmm, Hmm" war gütigst gestattet, mehr aber nicht. Dann wurde der Reihe nach abgestimmt. Der Wein mit den meisten Ja-Stimmen erhielt auf der Weinkarte ein Sternchen. Nach dieser Abstimmung durfte man erklären, warum einem dieser Wein so gut gefiel. Ja, streng ging es bei der Weinprobe zu. Von dem ausgesuchten Wein wurde eine Flasche versiegelt und vom Protokollführer aufbewahrt, um bei eventuellen Reklamationen eine Vergleich zu haben. 

 

Dass die alten und jungen Knaben dieser Kommission bei der Menge und Bewältigung dieses schweren Testes schließlich Opfer ihrer verantwortungsvollen Arbeit wurden, zeugt von der Gewissenhaftigkeit, mit der sie die ihnen übertragene Aufgabe erledigten.

 

Ich erinnere mich noch gut an eine Weinprobe zu Beginn der 5Oer Jahre. Unter Vorsitz unseres damaligen Majors hatten wir uns mit Eleganz und Schwung in Kerstings Kapelle (so hieß im Volksmund damals der Gesellschaftsraum im Hotel Kersting) der gestellten Aufgabe entledigt. Die Reste in den Weinflaschen (nur in den guten) waren ausgetrunken, von den weniger guten Resten gab es an den folgenden Tagen bei Kerstings Weinsuppe. In recht angeregter und beschwingter Stimmung trafen wir bei aufgehender Morgensonne den Heimweg an. Da wollte es das unausweichliche Geschick, dass wir auf die Fährte einer Klebekolonne stießen, die für den nächsten Wahlsonntag Wahlplakate geklebt hatten. Der Leim war noch frisch und feucht. Nun war diese Klebekolonne aber zu ihrem Unglück von der Gegenpartei unseres politisch auch sehr aktiven Bosses.

 

Sein bei der Weinprobe bewiesener Tatendrang und seine Aktivitäten erwachten von Neuem, diesmal aber auf politischem Gebiete. Mit dem Fanatismus eines überzeugten Parteianhängers machte er sich daran, die noch nassen Plakate wieder von den Wänden zu entfernen. Nun mach mal etwas gegen so eine Krankheit, wenn du ein gänzlich unpolitischer Mensch bist und nach Alkohol besonders friedlich und versöhnlich wirst? Zum Glück kam die besagte Klebekolonne nicht auf die Idee, das Werk ihrer nächtlichen Tätigkeit noch einmal zu überprüfen. Ich glaube, es hätte sich eine handfeste Keilerei entwickelt. Mir als neutralem Dritten blieb nichts anderes übrig, als die Reste dieser Bilderstürmerei von dem Straßenpflaster zu entfernen, damit diese Dokumente politischer Aussagen nicht auch noch mit Füßen getreten wurden. Sie verschwanden in den Kanalwasser-Ableitungen des gut funktionierenden Geseker Kanalnetzes. 

 

Ja, ja, die Weinprobe hatte es immer schon in sich.

 

 

siehe auch: Bierpanne